Über Grenzen

Konsequenterweise müsste der Titel diesmal De-Dekonfinierung lauten. Doch die Lage ist so schon unübersichtlich genug. Die Coronakrise bleibt eine globale Grenzerfahrung. Die Pandemie hob Landesgrenzen auf, als sie die Menschen weltweit im Durchleben von Hausarrest, Heimarbeit und Homeschooling vereinte, und sie errichtete Grenzzäune, wo es seit Jahrzehnten keine mehr gab. Wer im Frühling auf der Autobahn in Richtung Landesgrenze fuhr, wurde auf grossen Tafeln auf die beschränkte Ausreise hingewiesen. Über viele Wochen waren Grenzübergänge geschlossen und verbarrikadiert. Während wir virtuell und informativ täglich mit Internationalem überhäuft wurden, blieb unsere physische Bewegungsfreiheit monatelang auf äusserst lokalem Niveau. Think global, act local als privates und praktisches Erlebnis. Sobald man die Einschränkungen zu lockern begann, zog es die Menschen überall hinaus in Pärke, auf Boulevards und an Uferpromenaden, in Biergärten, Restaurants, Clubs und Konzertsäle, und schliesslich ins nahe Ausland und auf warme Ferieninseln. Unser Fernweh siegte über die Angst vor einer Ansteckung. Wir wollten wieder raus, aus dem Haus, aus dem Kaff, aus der Stadt und aus dem Land, in die Höhe, an die Sonne, ans Meer und in die Berge.

Die Zeit der Einkehr hat uns gezeigt, wie fragil unsere Lebensart und wie rasch unser Wohlstand an Grenzen stösst. Für die meisten von uns war das Erleben einer Knappheit von bestimmten Gütern eine Erfahrung, die wir bislang nur aus den Erinnerungen unserer Eltern und Grosseltern kannten. Abgesehen davon, dass zumindest hierzulande nichts Unentbehrliches je wirklich knapp war, konnte sich manch einer doch immerhin ein bisschen vorstellen, warum Menschen anfangen, auf allen möglichen Flächen Kartoffeln zu kultivieren. Wer abseits vom Lärm, den Menschen auf engem Raum auch in solchen Zeiten machen, die Gelegenheit hatte, die Stille zu hören und das Gefühl von geschlossenen Grenzen, stillstehenden Zügen und gegroundeten Flugzeugen auf sich wirken zu lassen, dem gelang es womöglich, sich in andere Zeiten hineinzudenken. Dennoch war es ein friedlicher Frühling, damals, trotz der martialischen Rhetorik mancher Politiker. Man glaubte an ein Ende.

Abermals haben wir unsere Kontakte auf einen engen Kreis eingeschränkt, auf Besuche und Geselligkeit verzichtet, den öffentlichen Verkehr und Supermärkte gemieden. Hof- und Dorfläden bleiben im Trend. Zu Hause wird weiter gekocht, gebacken und wohl auch eingefroren. Auch über die Festtage wurden die Grenzen des Machbaren gesprengt, Lager- und Lieferkapazitäten überschritten und die Logistik überfordert. Nach Videokonferenzen auf Terrassen und Balkonen bekamen wir nun auch ungewohnte Einblicke in private Stuben und Schlafzimmer. Tapfer probierten wir auch im Herbst und Winter Neues aus und sammelten weiter Daten, Erfahrungen und Erkenntnisse. Wildtiere eroberten Räume jenseits ihrer bisherigen Lebensräume, Haustiere bekamen noch mehr Spielraum und Aufmerksamkeit, und das Orangengesicht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde abgewählt. Wir feierten die anstehenden Festanlässe draussen in der Kälte oder virtuell mit Kolleginnen, Freunden und Verwandten. Dann – endlich – ging auch dieses Jahr zu Ende.

Das neue Jahr, in das wir uns so voller Hoffnungen mit letzter Kraft gerettet haben, ist erst ein paar Tage alt. Wieder werden Grenzen überschritten und gesetzt. Wütende stürmen das Capitol, ihrem Idol werden die Socialmedia-Konten gesperrt, Madrid versinkt im Schnee und die Lockdown-Diskussionen gehen in die nächste Runde. Die Welt wird geimpft, doch noch ist das Vakzin nur begrenzt verfügbar. Auch in Sachen Geduld, Verständnis und Verzicht stösst so mancher langsam an seine ohnehin längst ausgereizten Limiten. Nach bald einem Jahr ist man durch mit dem Programm, hat von Backen bis Yoga alles ausprobiert, was die Pandemie bedingte Leere mit Ablenkung und Zuversicht füllen könnte. So manches Schutzkonzept wurde ausgedacht, angepasst, verbessert und immer wieder haben wir uns an neue Umstände angepasst, nur um abermals auf neue Ankündigungen zu warten, die wohl wieder den einen zu weit, den andern zu wenig weit gehen. Doch bevor das Murmeltier uns ewig grüsst, hoffen wir auf Sonnenschein am 2. Februar 2021, damit der Frühling uns baldmöglichst vom trüben Wintergrau erlöst. Zuhause ist längst ausgemistet und durchgeputzt. Deshalb habe ich in logischer Fortsetzung auch auf diesen Seiten aufgeräumt, und so fliesst der alte Wein nun wenigstens in neuen Schläuchen. Möge das junge Jahr uns bald wieder andere, neue und – wohl der Neujahrswunsch schlechthin – normale Themen bringen!

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