Dekonfinierung

In voller Fahrt wurde der Zug gebremst, so als hätte er sich in hohe Schneemauern gegraben, die zumindest manche mit zunehmender Sorge bereits seit einigen Wochen wachsen und näherkommen sahen. Jetzt war es da, das Virus, die Seuche, die Pandemie, die viele in einer Mischung aus Hoffnung und Gleichgültigkeit seit Jahresbeginn sich wenigstens gedanklich vom Leib haben zu halten versucht. Es hagelte Absagen und wir zogen uns mit Klopapier und Pasta zurück ins traute Heim. Draussen blies uns die Krise immer fürchterlichere Anglizismen ins Gesicht: Homoffice und Homeschooling, Social Distancing und Shutdown, Soft-Lockdown und schliesslich noch Community Masken. Ansonsten war nichts mehr, es lagen keine Verkehrsmeldungen vor, die Sportplätze waren verwaist und die Autobahnen blieben stumm und leer. Kein Flugzeug brummte, nirgends zerschnitten Kondensstreifen den stahlblauen Himmel und man hörte keinen Zug mehr über die Eisenbrücke im Tal donnern. Während in all der Stille draussen die Blumen aus ihren Zwiebeln stiessen, Käfer über den leeren Asphalt krabbelten und die Vögel zwitschernd mit dem Nestbau begannen, wurde Zuhause bis zum Hefenotstand gebacken und derart gründlich geputzt und entrümpelt, dass mancher Entsorgungshof überfordert die Tore schliessen musste.

Derweil es auf der Welt bald beinahe überall still geworden war, glich so mancher Haushalt nun einem Wespennest, in dem sich das ganze prallvolle Leben mikrokosmisch konzentriert am Esstisch entlud. Während der Konsum von manchem Gut drastisch sank, nahm die Versorgung mit Unmengen von Daten umso exponentieller zu, als die Fallzahlen sich endlich zu stabilisieren begannen. Wie effizient arbeiten wir daheim, wie entwickeln sich Stromverbrauch, CO2 Werte und Pendlerzahlen? Wofür wird wieviel mit Karte bezahlt, wer trinkt mehr, wer isst weniger, bewegt sich wann, wo und wohin? Wie viele haben Angst, wer ist optimistisch oder vertraut einfach den Experten? Und wenn ja, welchen? Wo zuvor der Onlinehandel seit Jahren brummte, kam es zu Lieferengpässen, Serverüberlastungen und Totalausfällen, wo man hingegen von Digitalisierung nie viel hielt, wurden plötzlich innovative Höchstleistungen erbracht. Der Metzger, die Käserin, der Hofladen und der Landgasthof boten eiligst Take Away und Homedelivery auf Hochglanzwebseiten an, in der Gärtnerei konnte man per E-Mail Bestellungen aufgeben und die Ware nach Begleichen der Rechnung beim Eingang abholen. Selbst vor dem Dorfladen wurde nun auf einem grossen Plakat für den eigenen Onlineshop geworben. Die Stammkundschaft liess sich entmündigt beliefern und wusste bald weder von Früchten noch Gerüchten, was gerade Saison hatte.

Es war oft so still, man konnte beinahe hören, wie sich die Blütenblätter entfalteten, der Farn sich ausrollte, die Bienen am Nektar saugten und die Käfer und Würmer sich auf der trockenen Erde abmühten. Man hörte gar den Specht hämmern und den Kuckuck rufen, Blumen und Büsche blühten reihum in lila, gelb, rot und weiss, und endlich öffneten die Gartencenter wieder! In den Wäldern türmte sich mittlerweile der Abfall und obwohl zumindest hier nie jemand wirklich eingesperrt war, ausser innerhalb der Landesgrenzen, hörte man immer häufiger Kritik. Von Diktatur war die Rede und von Fehlern. Die Kennzahlen wurden zuverlässiger und zunehmend erfreulicher, nun waren es die Coronakosten, die Arbeitslosenzahlen, die Konkurse und Verluste, die in die Höhe stiegen. Das Plakat mit den Schutzmassnahmen wechselte von rot zu pink und endlich brachte die Krise wieder ein deutsches Wort hervor: Lockerungen. Man durfte uns wieder die Haare schneiden, Tattoos stechen und wir konnten Kleider kaufen und auswärts essen gehen. Heureka!

Nun ist das Plakat blau, der Sommer hat zumindest meteorologisch begonnen und nur noch ein paar nachzügelnde Holunderblüten erinnern an den längsten Frühling, den ich je erlebt habe. In Europa wird dekonfiniert – es darf wieder gewandert, gejasst und geplanscht werden. Flugzeuge brummen wieder über dem Strassenlärm, Züge poltern über die Brücke und in den Gärten kreischen Kinder, lachen Grosseltern und grillieren Freunde. An schafskalten Regentagen ist der Kinosaal wieder eine willkommene Alternative, die Affen im Zoo dürfen wieder bespasst, am See darf wieder gesessen und in der Beiz wieder gewettert werden, und bereits gibt es neue traurige Anlässe für Demonstrationen. Bald gehen die Grenzen wieder auf, packen Familien den Camper und es wird in lausommerlicher Partylaune gefeiert und getanzt. Die Aare ist bebadbar!

 

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2 Antworten

  1. Claudia Forster sagt:

    Spannender Artikel und wie immer sehr amüsant und treffend geschrieben. Vielen herzlichen Dank! Nur ein kleiner Hinweis: die Sportplätze waren verwaist, nicht verweist. Alles Gute und liebe Grüsse, Claudia >

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