Maskenkater

Freedom Day! Verhaltene Freude herrscht. Eher leer schluckende Stille, obwohl das Verkündete nicht überraschend kam. Das Land fühlt sich wie «kurz nach einer Scheidung: Man trauert einer Situation nach, die längst unerträglich geworden ist», so beschrieben im NZZ-Briefing am Morgen danach. Die Reaktionen in den einschlägigen Kanälen zeugen von gemischten Gefühlen. Wer hoffte, durch die Aufhebung der Ausgrenzung die Gesellschaft wieder zu einen, merkt rasch, dass sich nur die Vorzeichen umkehren: nun fängt die Freiheit dort an, wo sie eben noch aufhörte, und endet, wo sie gerade noch begann. Während jene, die lange genug draussen bleiben mussten, drinnen feiern, fühlen sich die anderen, die bisher reindurften, jetzt draussen wohler. Vor zwei Jahren verschwand das gewohnte Weltbühnenbild fast über Nacht hinter einer surrealen Kulisse. Digitalisiert wie wir nun mittlerweile sind, wirkt der abermalige Wechsel des Szenenbildes wie ein gekünstelt optimistischer Videokonferenzhintergrund.

Eben noch beim stillen Waldspaziergang mit sich selbst, steht manch einer plötzlich überrumpelt mitten im Getümmel und wähnt sich womöglich ins Metaversum entführt. Die Rückblicke, Fehlerlisten und medial wirksamen Sinnbilder der Pandemie laufen wie vorproduzierte Nachrufe über die Sender. Hier Häme, Hass und Hetze, dort Säbelrasseln und Klingenwetzen. Vom Maskengefecht direkt mitten hinein in Gendersternenkrieg, Versorgungsnot und Klimakatastrophenstreit. Kaum dürfen wir uns wieder die Hand reichen und uns umarmen, werden die Fäuste nicht mehr zum friedlichen Gruss geballt und die Ellenbogen wieder gegeneinander eingesetzt. Weder sind die Warnungen vor der nächsten Welle verhallt, noch die Rücksichtsapelle verstummt. Wer trotz allem noch Maske tragen, keine fremden Hände schütteln und übervolle Räume auch weiterhin meiden will, wird angepöbelt, und jene, die nun wieder alle Freiheiten haben, rufen zur nächsten Demo gegen die Ende März ohnehin fallenden letzten Massnähmchen auf. Freedom day?

Doch, da sind auch die Bilder von lachenden Gesichtern und vollen Abfalleimern: weg mit der Maske, weg mit den mahnenden Corona-Plakaten, weg mit den gläsernen Trennwänden. Rein ins Getümmel und ab ins Vergnügen! Jugendliche, die sich herzlich umarmen, strahlende Menschen, erleichterte Gastwirte und dankbare Lehrkräfte. Obwohl hierzulande die Mühlen bekanntlich langsam mahlen, zünden die Eidgenossen den Öffnungsturbo und stürzen sich ins kollektive Betatesten. Es ist ungewohnt und man kann die Verunsicherung mit Händen greifen. Aber man will sie nicht anfassen. Monatelang wurde über jeden Schritt und jede Zahl Rechenschaft abgelegt, wurden die Risiken erläutert, die Zusammenhänge erklärt. Viele misstrauten den Entscheiden, zweifelten an Zahlen und Fakten. Der Entscheid zur Öffnung ist nicht minder komplex und man staunt, dass gerade jetzt keine detaillierten Hintergründe im Zentrum stehen, um die Risiken und mögliche Entwicklungen transparent zu machen. Gute Nachrichten kann man eben auch ohne Begründung verkünden, rechtfertigen muss sich nur, wer nicht sagen kann, was alle hören wollen. Es ist ein Freudentag!

Das Virus ist nicht verschwunden, im Gegenteil, es ist präsenter denn je. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hockte es auch an der Medienkonferenz des Bundesrates mit auf dem Podium. Die hässliche Kugel mit ekligen Zapfen, die uns auf allen Bildschirmen so lange über die Schultern von Nachrichtensprechern entgegengrinste, ist mit der Ankündigung der Aufhebung der meisten Massnahmen – zack – verpufft. Das Virus hat sich in Luft aufgelöst, wo es zwar nie sichtbar, aber zumindest durch Daten wahrnehmbar war. Es ist, als ob jemand das Licht angemacht hätte, und man nun im Alltag wieder durch eine Umgebung navigiert, in der die nur im Dunkeln leuchtende Gefahr nicht mehr erkennbar ist. Natürlich wird Covid-19 dableiben, zusammen mit all den anderen Viren und Bakterien, die uns ständig umgeben und immer umgeben werden. Das ist gut und schlecht zugleich. Der Mensch lebt und überlebt, weil er sich auf das konzentrieren kann, was gerade wichtig ist, und ausblenden kann, was ihn behindert. Wir leben und überleben aber auch, weil wir aus Erfahrungen lernen und sie in unser Verhalten und unsere Reaktionen integrieren, wo wir sie dann rasch und meist unbewusst wieder abrufen können. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren so manches gesehen, was uns zuvor verborgen war. Es ist zu hoffen, dass das Erfahrene Teil unserer Kompetenzen wird, allen voran Rücksicht, Respekt und das Sorgetragen zu unserer Freiheit. Dann herrscht vielleicht bald tatsächlich Freude.

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