Schreien oder schweigen?

Der Sommer ist vorbei, trotzdem läuft man ständig Gefahr, in Wespennester zu greifen. Solidarität, er kann das Wort nicht mehr hören, sagt er. Unter normalen Umständen sind spontane Debatten durchaus bereichernd, doch derzeit steckt man plötzlich völlig unvorbereitet fest in einem der jeweiligen Beziehungsform überaus unangemessenen höchstpersönlichen Disput. Was an der Solidarität falsch sei, frage ich. Wenn Söder behauptet, «dass nahezu alle Virologen, Epidemiologen und Wissenschaftler die Wirkung dieser neuen Welle in ihrer Wucht und Geschwindigkeit nicht richtig eingeschätzt haben“, verwirrt weniger die Unrichtigkeit der Aussage als die Frage, seit wann Virologen und Epidemiologen keine Wissenschafter mehr sind. Zumal ohnehin bald jeder auch Ethiker, Soziologe oder gar ein Philosoph sein will. Er jedenfalls ist der Ansicht, dass solidarisch doch wohl die andern sein müssen. Die Vulnerablen und Alten sollen sich impfen lassen und zu Hause bleiben. Von der Seuche sind die Jungen und Gesunden ja kaum mehr betroffen, als von einer harmlosen Erkältung. Abgesehen davon würden diejenigen, denen Corona zusetzte, ohnehin sterben. Aha.

Überbevölkerung wirft er noch hinterher, und Verkehrstote, und dass man den Tod akzeptieren müsse. Schweigen oder schreien? Es ist eine Geschäftsbeziehung, wie bin ich da bloss reingeraten? Ich wage einen Argumentationsversuch mit gesellschaftlichem Konsens, dass wir als Bürger und Gemeinschaft anderen helfen und sie nicht sterben lassen, belegbar mit Hippokratischem Eid und der unterlassenen Nothilfe als Straftatbestand. Quatsch, heisst es am anderen Ende der Leitung, nur weil ein paar sterben könnten, dürfe man nicht allen das Leben verbieten. Unethisch. Oha. Wir leben im wohl einzigen Land, in dem die Bürger bei der Pandemiebewältigung mitbestimmen, gleichwohl fühlen sich viele bevormundet. In Wahrheit herrscht gerade ein Virus über uns, während wir es in der Hand haben, welchen Schaden es anrichten kann. Um rettende Sachlichkeit bemüht, greife ich in die Ökonomiekiste. Mit solidarischem Verhalten verhindert man erneute Einschränkungen und Einbussen in den ohnehin gebeutelten Betrieben. Durchseuchen wäre hier die einzig richtige Strategie, harmlos für die meisten, angedrohte Schliessungen nur behördliche Panikmache.

Die Schuld wird bei informationsdepriviert drohendem Kontrollverlust üblicherweise den Medien gegeben. Kritisieren darf man. Zum Beispiel die völlig absurden Umfragen: sind Sie für oder gegen die Pandemie? Glauben Sie an Corona? Klickgierig suggeriert man der krisengebeutelten Leserschaft ein Recht auf Meinung und Mitsprache über Sein oder Nichtsein, die es so schlicht nicht gibt. Man kann wohl über Meinungen streiten, aber nicht über Tatsachen. Statt die Komplexität der Krise und ihrer Bewältigung mit verständlichen Graphiken zu erläutern, werden allzu oft noch mehr Zweifel und Ängste geschürt. An den regelmässigen Corona-Medienkonferenzen kann jeder sich einerseits direkt, sachlich und auch für Laien verständlich über den aktuellen Stand der Dinge informieren, andererseits allerdings auch beobachten, dass ein Teil der Journalisten schlecht zuhören kann und selektiv verstehen will. Anschliessend erscheinende Elaborate einzelner Informationsvermittler erstaunen zuweilen derart, dass auch heftiges Kopfschütteln nichts hilft. Den Rest besorgen die üblichen Quellen mit wildesten Theorien und nichtigsten Randnotizen aus zweihundert Jahren Impfgeschichte. Sie werden in absurd verdrehten Darstellungen angeboten, so dass querdenkende Wutbürger einen bei jeder Gelegenheit damit zumüllen können. Womit er mir dann auch drohte. Bitte nicht! Wer sich informieren will, der kann. Belegbare Tatsache. Lügenpresse! Das führt ins Leere.

Was nun? Harte Fakten. Hohe Fallzahlen bedeuten mehr Hospitalisierungen bedeuten Überbelegung bedeutet Triage. Das war der Ethikfettnapf! Sterben gehört zum Leben, müssen wir wieder lernen, mittelalterliche Pestweisheit. Wer darf leben, wer kann sterben, will er das entscheiden? Warum sich nicht gleich für Gott persönlich halten, immerhin, Herr Söder, der ist wohl tatsächlich kein Wissenschafter. Ich will hier raus, wo ist der Notausgang? Letzter Versuch, vielleicht funktioniert ja gesunder Menschenverstand. Wir nehmen Gerinnungshemmer, Antibiotika und Psychopharmaka, die allesamt mit heftigen Nebenwirkungen glänzen, bestellen unberechenbare Hormone oder die wildesten Optimierungspillen irgendwo im Internet und impfen uns gegen Tropenkrankheiten für die Afrikasafari und den Abenteuerurlaub, doch bei global milliardenfach verabreichten und multistaatlich geprüften sicheren Impfungen hört der Spass just dort auf, wo der Nutzen für die Gemeinschaft grösser ist, als die unmittelbar erlebbaren subjektiven Vorteile. Freiheit hört dort auf, wo die des anderen anfängt. Nicht in einer Pandemie, die nur erfunden ist. Ich gebe auf.

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