Was übrig bleibt
Noch sind wir nicht zurück im Courant normal, doch die rasch steigende Häufigkeit kritischer Ex-post-Betrachtungen kündet vom nahenden Ende der Pandemiekrise. Was wird bleiben von dem, was wir in den vergangenen Monaten erfahren, gelernt und erkannt haben? Man darf jetzt spekulieren, später wird die Zukunft auch Fakten liefern. Erste Belege für Widersprüche zwischen empfundener Gegenwart und tatsächlicher Wirklichkeit gibt es bereits: trotz Hofladenspaziergängen und Biolebensmittelabos sank der Absatz von Tierwohl-Labels im Corona Jahr und entpuppte sich manch guter Vorsatz als wenig nachhaltig. Der Mensch mag, was er kennt, er vergisst schnell, erlebt subjektiv und erinnert selektiv. In jedem Fall aber waren die wenigsten darauf vorbereitet, von einem Tag auf den anderen mit völlig neuen, ungewohnten und unbekannten Herausforderungen fertig werden zu müssen.
Viele improvisierten am Esstisch zum ersten mal ein Homeoffice, andere mussten ihr kaum mehr genutztes Büro zu Hause samt technischer Infrastruktur erst einmal vom Ballast jahrelanger Zweckentfremdung befreien. Je nach Branche und Möglichkeiten wurde weltweit einiges an Zeit und Geld in Software und Equipment für Onlineangebote, Shopplattformen und Kollaborationstools investiert. In erstaunlich kurzer Zeit veränderten sich unsere alltäglichen Räume und Wege geographisch wie sozial in beträchtlichem Ausmass. Wo eben noch die pulsierende Stadt und das berufliche Umfeld die täglichen Eindrücke dominierten, gaben nun Familie, Nachbarschaft und Natur den Takt an. Selbstverständliche Kontakte rückten in den fernen Hintergrund, während durch den Wechsel in die virtuelle Welt andere den neuen Alltag in ungewohnt regelmässiger Häufigkeit prägten. Bereits wurde viel darüber diskutiert, ob und inwiefern sich die Pandemie auf unser Reiseverhalten, das Klima, auf Geschäftsflüge und die Digitalisierung auswirken wird. Aber auch in anderen Bereichen des Lebens vollzogen sich rund um den Globus bedeutende Veränderungen.
Mit den angeordneten Massnahmen wurden nicht nur unsere Bewegungsräume eingeschränkt, beinah überall reduzierte sich damit auch die gewohnte Welt um mindestens eine Dimension. Wir lernten beim Onlineshoppen ohne haptische und olfaktorische Informationen zurecht zu kommen. Andererseits entdeckten manche die zuvor selten wahrgenommene Vielfalt an Gerüchen und Beschaffenheiten von Wegen, Wiesen und Wäldern. Über Jahre stellungskämpferisch errungene Privilegien in den Sitz- und Hackordnungen von Berufs- und Vereinsleben fielen zum Leidwesen vieler den zufällig angeordneten Fensterplätzen in weitgehend hierarchiefreien Onlinekonferenzen zum Opfer. Wo zuvor der im Rahmen einer open door policy gepflegte martialische Einfall ins Chefbüro mit den durchschlagenden drei Gewehrkugelpunkten nicht jedermanns Sache war, bot sich mit der Verlagerung in zivilisierte Chaträume nun auch Pazifisten eine diskretere und rücksichtsvollere Alternative für einen souveränen elevator pitch. Umgekehrt standen Türen offen, die zuvor fest verschlossen waren: regelmässig bekam man jetzt tiefe Einblicke in die privaten Räume auch jener, die aus unterschiedlichen Gründen kaum je zur happy hour mit Kollegen um die beste Selbstdarstellung wetteiferten.
Weil sich für viele das Leben vom Büro ins Zuhause verlagert hat und Reisen buchstäblich in weite Ferne rückten, wurden nach dem ersten Putzfieber und den Backattacken auch grössere Verschönerungsprojekte in Angriff genommen. Pools, Gartenhäuser und selbst grössere Renovationsarbeiten lagen angesichts der Verlängerung durchaus im zeitlich möglichen Rahmen. Jemand beschrieb die häuslichen Veränderungen als durchaus aufschlussreichen Vorgeschmack auf das Leben nach der Pensionierung, ohne Homeoffice und Homeschooling, aber eben mit permanenter Anwesenheit. Die Pandemie hat unsere äussere Welt in die innere gedrängt und die innere zumindest teilweise nach aussen gestülpt. Es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Zeiten das Gendern in all seinen Farben und Formen unsern Alltag so sehr durchdringen konnte, dass es mit dem Knacklaut bewaffnet mittlerweile selbst von Moderaten, Toleranten und Ignoranten nicht mehr überlesen werden kann. Nach bald eineinhalb Jahren, in denen sich die Sphären von Männern und Frauen in vielen Leben näher gekommen sind als es feministische Forderungen je hätten durchsetzen können, scheint das gleiche Rentenalter für beide ebenso eine Chance zu bekommen, wie das Homeoffice nicht mehr länger als ineffizient oder karriereverhindernd angesehen werden kann. Wir haben bewiesen, dass wir das Klima schonen, flexibel arbeiten und gleichberechtigt leben könnten, und wir haben erkannt, dass jene am wenigsten verdienen, die auch in Krisen das Funktionieren unserer Gesellschaften ermöglichen. Was davon bleiben wird, liegt in unser aller Hände, die Zukunft wird zeigen, ob wir handeln werden.