Handreichung zum Handschlag

Weil sie im Internet gelesen hatten, dass es sich nicht gehört, eine fremde Frau zu berühren, verweigerten zwei Teenager einer Lehrerin den Handschlag. Dies führte trotz schulinterner Einigung erst zu einem medialen Aufschrei und dann zur Sistierung des Einbürgerungsgesuches der Familie. Es ist zweifelsohne unanständig, eine gereichte Hand nicht anzunehmen. Hierzulande gilt die Regel, dass der Ranghöhere als erster seine Hand zum Gruss ausstreckt, ausserhalb der Geschäftsräume ist es der Gastgeber oder die Frau, da sie in Sachen Umgangsformen wertschätzende Privilegien geniesst. Treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander, wird die Sache komplizierter, weil es auf die Frage nach dem, was sich gehört, plötzlich drei Antworten gibt: seine eigene, eine fremde und den Anstand. Deshalb wechselt man im internationalen Kontext gerne auf die Metaebene der Benimmregeln, denn fast überall ist es unanständig, Gastgeber zu brüskieren und unsinnig, Kunden zu vergraulen. So reicht man üblicherweise jemandem die Hand, weil es sich so gehört, ist es dem Gegenüber aber unangenehm, aus welchen Gründen auch immer, ist es tatsächlich höflicher, ihm das Rital nicht aufzudrängen. Dies ist insbesondere dann angezeigt, wenn jemand ausdrücklich darum bittet.

Auch Grussrituale verändern sich zuweilen mit der Mode und dem Zeitgeist, meist ganz ohne den Begleitlärm lauter Empörungswellen. Mit dem Hut verschwand das Lüften desselben, zum Handkuss kommt eine Frau nur noch im übertragenen Sinn und mit dem Hofknicks im Reifenrock muss niemand mehr den Bückling machen. Aus dem Süden drang in den letzten Jahrzehnten das Wangenküssen in die nördlichen Gefilde. Unter Frauen und in gemischter Besetzung ist das Ritual mittlerweile so selbstverständlich geworden, wie das Du ohne Duzis zu machen. Immer häufiger wird der Handschlag übergangen, wird die Armlänge Intimsphäre ignoriert, die man nicht nur weiblichen Fremden gegenüber gemeinhin wahren sollte. Trotzdem wird es selbst auf höchster Ebene in aller Öffentlichkeit praktiziert und gibt gelegentlich zu reden. Das Vergnügen ist allerdings weder immer gegenseitig noch hat es sich unter Männern im gleichen Ausmass durchgesetzt, auch wenn es beherzte Ausnahmen gibt.

Darf man bei noch nicht ausreichender Vertrautheit einen Wangenkuss verweigern? Ja, indem man als Frau die Hand reicht, denn damit bedeutet sie, dass sie diese Form der Begrüssung zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch vorzieht. Tatsächlich wird einem dieser angebotene Handschlag nicht selten verweigert. Stattdessen wird man umarmt und gedrückt, muss unter Umständen gar dreimal struppige Barthaare an seinen Wangen dulden, schuppige Schultern aus nächster Nähe anstarren und eine Hand auf seinen Schultern spüren, die da nicht hingehört. Es ist anzunehmen, dass auch Männer dies nicht immer schätzen, wenn sie ihrerseits an allzu parfümierten Hälsen schnuppern oder sich in haarlackierten Strähnen verheddern. Eine angebotene Hand nicht anzunehmen, ist ein Affront, keine Frage. Aber eine angebotene Hand zu ignorieren und einem ungefragt die Küsserei aufzuzwingen, ist in manchen selbstverständlich subjektiven Fällen weit unangenehmer. Respekt vor einer Frau bedeutet, auf ihre Empfindungen, Wünsche und Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Wer ihre dargebotene Hand ablehnt, macht sie auch zum Objekt, wenn er die Geste ignoriert und ihr ohne Plazet das Wangenkussritual aufdrängt.

Es geht hier weder um religiöse Gefühle noch um ideologische Genderfragen, sondern um Respekt. Unsere Anstandsregeln sind Ausdruck einer gesellschaftlichen Vereinbarung, mit welchen Symbolen wir einander gegenseitig unsere Wertschätzung zeigen. Beruft sich jemand also ausdrücklich auf die Wertschätzung und den Respekt gegenüber der Frau, kann er ihren Handschlag auch dann annehmen, wenn es in seiner Kultur als unpassend gilt, weil sie ihm durch die Handreichung dazu ausdrücklich ihr Einverständnis erteilt. Sie gibt einem Mann so auch zu verstehen, dass sie ihn seinerseits als menschliches Subjekt und nicht als triebgesteuertes Objekt sieht, das bei gereichter Hand gleich den ganzen Körper nimmt. So haben beide Seiten eine Wahl: der Gastgeber kann dem Gast den Gefallen tun und ihn ohne Handschlag begrüssen, wenn ihm das lieber ist, und der Gast kann dem Gastgeber seine Wertschätzung zeigen, indem er die Geste annimmt, weil er weiss, dass er sein Anstandsgebot so trotzdem einhält. Über Ideologien kann man nicht vernünftig reden, das gilt für Religionsdebatten genauso wie für Genderdiskussionen. Aber man kann sich mit Respekt für einander darüber einigen, wie man es persönlich handhaben will.

 

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1 Antwort

  1. geb ich dir durchaus recht. respekt.
    was mich an der schulgeschichte in therwil stört: dass kinder / jugendliche zu politsch-religiösem (aus meiner perspektive: für einen machtkampf) gebraucht / eingesetzt / ausgesetzt / missbraucht werden.

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