Paarungszeit
Es gibt Ausnahmen, aber sie sind nicht die Regel. Das Folgende ist nur fast frei erfunden, aber wer sich oder andere erkennt, ist nicht gemeint und darf an Zufall glauben. An jenem lauen Frühlingsabend kam er, der in Wirklichkeit anders hiess, haarscharf an der Unhöflichkeitsgrenze zu spät zum Treffpunkt. Er kaute furchtbar unanständig Kaugummi, wohl um damit jenen fünf Jahren Ausdruck zu verleihen, die sein Profil jünger war als er. Er sah allerdings um fünf Jahre älter aus, als er tatsächlich war und zählte offensichtlich zu den beneidenswert fotogenen Menschen. Das eigentliche Unheil aber, das sich gegenwärtig abspielt, nahm bereits vor vielen Jahren im Grunde mit der Einführung des Kurznachrichtendienstes bereits seinen Lauf. Die Meldungen hatten schon aufgrund der verborgenen Art ihrer Verbreitung etwas Klandestines und waren auch mit harmlosem Inhalt intim, wenn sie beim Empfänger körpernah vibrierten. Der Kollege hätte es nicht gewagt, sein Lob mit schlüpfriger Zweideutigkeit zu formulieren, die Mitarbeiterin sich nicht getraut, den Ball zurückzuspielen, hätten beide sich in die Augen schauen und hörbar unterhalten müssen. Im Dunkeln asynchroner Kommunikation war nun sehr gut munkeln und bot aufregende Privatheit in der öden Öffentlichkeit. Doch im Gegensatz zu Liebesbotschaften à la Cyrano de Bergerac, hat all das mit dem Handy jede verspielt-romantische Unschuld verloren.
Der technische Fortschritt innervierte Gelegenheiten, und wo diese sich ergeben, ist die Verführung selten weit. Nicht dass es vor dem SMS keine Seitensprünge gegeben hätte, aber der Aufwand war vom Anbandeln bis zum Schäferstündchen um einiges grösser und ohne Einfallsreichtum und Organisationstalent kaum zu bewerkstelligen. Natel und Kurznachrichten öffneten den Markt auch für von Natur aus Bequeme, weil man es konnte, tat man es. Seither wuchs mit dem Angebot die Nachfrage und omnipräsente Werbung fordert derart aufdringlich zum Fremdgehen auf, dass manchen schon das schlechte Gewissen ob der ausgelassenen Gelegenheiten plagt. Der Herr mit falschem Namen liess keine aus. Unter Vermeidung von Privatem und Politischem plauderte man also über Aktuelles und Alltägliches. Namen sollte man dabei besser meiden, Urteile über andere erst recht und selbst dann, wenn man annimmt, die Person sei dem Gegenüber unbekannt. Im Schattenreich der virtuellen Bekanntschaften geht sonst schnell vergessen, dass die Welt trotz Internet ein Dorf geblieben ist.
Während die jüngere Generation sich in Chatrooms und auf Datingapps promiskuitiv und polyamourös vergnügt, werden die Partnervermittlungsplattformen mit der gebotenen Seriosität angepriesen. Niemand will bestreiten, dass es glückliche Paare gibt, die sich im Netz getroffen und fürs Leben gefunden haben. Dennoch erinnert das Muster an moderne Sagen über Spinnen aus der Yucca Palme. Doch wer ständig meckert, sollte sich auch selbst ein Bild machen, bevor ein Urteil fällt. Schaut man sich dort schliesslich um, glaubt man sich auf Tinder für Erwachsene verirrt zu haben. Weil der erste Eindruck oft der falsche ist, heisst es geduldig mehr erfahren. Da gibt es Damen, die sich gern zum Essen ausführen lassen und bei Gefallen durchaus willig mehr geniessen. Das Vergnügen darf auch länger dauern, doch besteht weder ein Verbindlichkeits- noch ein Exklusivitätsanspruch. Eine Dienstleistung, die man auch unter anderer Bezeichnung kennt, nur ist sie deutlich teurer. Natürlich haben auch Männer das Sparpotential erkannt.
Im Wein liegt die Wahrheit und so erzählt auch der mit falschem Namen von Bekannten, die sich schon länger auf diese Weise einen abwechslungreichen Lebenswandel leisten. Comparis hat die Idee zwar als Aprilscherz in die Welt gesetzt, doch tatsächlich bieten Kennenlernportale auch jenen nützliche Dienste, die sich ab und zu vergewissern möchten, dass sie die beste Wahl bereits getroffen haben. In kompetitiven Zeiten ist auch das Prüfen des eigenen Marktwerts durchaus üblich. Es gibt jene, die sich gerne unterhalten, und andere, die sofort die Bildfreigabe fordern. Passen Äusserlichkeiten nicht ins Beuteschema, klickt man einfach auf den Verabschiedungsknopf. Dem, der anders hiess, haben Bild und Alter offenbar gefallen, und beim Digestiv nimmt er dann die Maske ab – der falsche Name bleibt ihm ja als Sicherheit. Der Abschied fällt kurz aus und auf dem Heimweg bietet das Handy dann doch ganz gute Dienste: in der Öffentlichkeit des Internets lässt sich bequem und diskret nach allerlei Privatem forschen. So findet man nach einem redseligen Abend rasch die Wahrheit über Namen, Alter und den Lebenslauf heraus. Nicht alles war erfunden, aber nun weiss man mehr, als einem lieb ist.
Diesen Kommentar schreibe ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht – wunderbar schelmisch geschrieben, amüsant und erheiternd – diese «fast» frei erfundene Anekdote zur Paarungszeit.