Blinde Flecken
Man diskutiert über Gelesenes, Gesehenes oder Gehörtes und stellt fest: es ist wie in der Medizin – drei Ärzte, drei Meinungen. Im Gespräch mit andern wird deutlich, dass wir Informationen selektiv wahrnehmen, oft trotz gleicher Quelle manches unterschiedlich verstehen und einiges übersehen. Es gibt auch einen Sekundenschlaf beim Lesen. Selbst im Büro kommt er vor: jemand ruft an, ist erzürnt über eine E-Mail. Fragt man nach, welche Aussage denn nun derart empört habe, stellt man gemeinsam fest: keine. Ein Missverständnis, das man sich beim erneuten Durchlesen nicht mehr erklären kann. Wir nehmen Informationen aber nicht nur unvollständig und subjektiv wahr, sondern sie gelangen auch immer wieder unbemerkt in unsere Köpfe. Längst hat man sich an Produkt-Placement, Sponsoring und Dauerberieselung beim Einkaufen gewöhnt, überhaupt an all die Werbebotschaften, mit denen unsere Sinne auf sämtlichen Kanälen narkotisiert werden. Man hört einfach nicht mehr hin.
Dabei sollten wir genau das tun: hinhören, was uns hier eigentlich serviert wird. Denn hinter dem Gedudel im Laden stehen professionelle Redaktionen eines Instore-Radios, die sich weniger am Hörerwunsch orientieren, sondern ganz im Dienst ihrer Auftraggeber stehen. Das bezahlende Unternehmen entscheidet, was ins Programm kommt, und was nicht. Deshalb hören wir Beiträge über biologischen Spargelanbau und gesundes Grillieren, erfahren aber nichts vom jüngsten Lebensmittelskandal. Immer wenn Nachrichten den Weg zu uns finden, dann geschieht das vorsätzlich, von der Wortwahl bis zum Zeitpunkt einer Kommunikation wird kaum etwas dem Zufall überlassen. Die Kommerzialisierung hat dabei längst auch Informationsmedien jenseits der offensichtlichen Beeinflussung erfasst. PR-Agenturen schreiben heute nicht nur mehr oder minder transparent an Artikeln mit, sie nehmen auch Einfluss auf die Themenwahl, verfassen Wikipedia-Seiten und stecken selbst hinter scheinbar privaten Kommentaren in Online-Foren. Sie sind sogar in der Lage, ganze Bewegungen zu lancieren. Wer sich im Sommer über den Lobbyismus in der Affäre Kasachstan echauffiert hat, sollte sich auch die Frage stellen: wer wollte, dass wir uns aufregen? Ausgerechnet Burson-Marsteller wirbt damit, mit der Partnerfirma DirectImpact führend in der gezielten Mobilisierung von Graswurzelbewegungen zu sein.
Empört Euch! Man darf Stéphane Hessels Aufforderung ungeniert nachkommen, allerdings nicht ohne sich der Gefahr auszusetzen, in den Strudel gezielter Empörungsbewirtschaftung zu geraten. Vom Leitartikel bis in den Lokalteil, weder Abendnachrichten noch Lifestyle-Magazin, nichts, was wir vorgesetzt bekommen, bildet das objektive Ganze ab. Was wir erfahren, entspricht stets nur einem Teil der Geschichte, einer bewusst gewählten Perspektive. Gleichzeitig nehmen wir aber auch alles, was wir konsumieren, mit unseren eigenen bewussten und unbewussten Filtern auf. Beides geschieht nicht immer mit verborgener Agenda, oft dient es lediglich der Klarheit, Übersichtlichkeit und Orientierung, oder entspricht einfach unseren Interessen. Je weniger man sich aber im verworrenen Durcheinander auf die Einordnung anderer verlassen kann, desto mehr Verantwortung liegt beim einzelnen Medienkonsumenten. Deswegen müssen wir uns laufend fragen, warum wir etwas gerade jetzt lesen, wer es warum so und nicht anders formulierte, und vor allem: was wurde weggelassen? Mit welchen Methoden der subtilen Manipulation wir täglich konfrontiert werden, erfährt man dort, wo man sich auch sonst kundig macht: im Internet oder beim Kommunikationsberater. Wer sich umfassend informieren will, kann Edward Bernays› Buch Propaganda lesen, dort hat sich schon Goebbels bedient, oder sich einen aktuellen Vortrag anhören.
Nur eine weitere Verschwörungstheorie? Wer weiss. Gleichwohl sollte man in der unübersichtlichen Informationsflut, in der heute Leser wie Redaktoren ständig zu ertrinken drohen, besonders aufmerksam sein und nicht heldenhaft auf eine Schwimmweste verzichten. Andererseits muss man auch nicht sofort nach dem Rettungsring greifen und Land unter! schreien. Es reicht schon, sich anzugewöhnen, stets die Frage nach dem Fehlenden zu stellen und wieder zu lernen, Meinungen von Fakten zu unterscheiden. Als Trainingslektüre eignen sich die rhetorischen Fingerübungen in Editorials und Leitartikeln, welche Antonius‹ politisierende Meisterschüler gerne wöchentlich verfassen. Im Übrigen gilt, was immer galt: man sollte sich nicht nur über einen Kanal, in einer Sprache, noch nicht einmal nur in einem Land informieren. Es schadet auch nichts, gelegentlich vom medienkritisch anders grünen Gras jenseits des Zauns zu kosten. Vor allem aber ist es unerlässlich, die alltägliche Unterhaltung mit andern zu pflegen, um blinde Flecken aufzudecken und beheben zu können, bevor sie sich unbemerkt in unseren Köpfen eingenistet haben.