Der Müll im Datenmeer

„Das Gespräch kann zu Schulungszwecken aufgezeichnet werden“, informiert uns eine Tonbandstimme. Seit der Fichenaffäre ist über ein Vierteljahrhundert vergangen. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass wir auf sämtlichen Kanälen abgehört werden. Weder Wikileaks noch Edward Snowden vermochten das nachhaltig zu ändern. Wir haben uns damit abgefunden, dass alles aufgezeichnet, archiviert und ausgewertet wird. Alles. Unsere Daten werden von Firmen, Behörden und Organisationen gehamstert, gelagert und bei Bedarf für oder gegen uns verwendet, inklusive einer Grauzone dazwischen. Manche finden das nützlich, weil sie deshalb laufend mit massgeschneiderten Informationen und Werbebotschaften versorgt werden. Andere akzeptieren einfach, dass die ständige Datenüberwachung der allgemeinen und damit auch ihrer eigenen Sicherheit dient. Nur ein Teil wehrt sich gegen die orwellsche Dauerkontrolle auf allen Kanälen des nunmehr fast vollständig digitalisierten Lebens. Was noch vor zwanzig Jahren eine Horrorvision war, ist längst normal: irgendjemand weiss immer, was wir wann und wo essen, wohin wir womit und warum fahren und wovon wir wie und mit wem leben.

Nicht einmal mehr die Gedanken sind uns noch Privatsphäre wert. Alles, was wir lesen, hören und sehen wird augenblicklich getwittert, gepostet, kommentiert und neuerdings auch gestreamt. Sofern wir Zugang zum Internet haben. Doch auch das ist Nostalgie: kein Empfang auf der Sonnenterrasse im Bergrestaurant, am Sandstrand oder im Zug – das war einmal. Wo auch immer wir sind, wir werden dort nicht nur überwacht, sondern produzieren selbst immer mehr Daten. So wie die Schleimspuren der Schnecken von ihren Vernichtungszügen über Blumen, Kräuter und Gemüse zeugen, markieren wir im Datenozean andauernd wo wir sind, wie wir uns gerade fühlen und was wir heute mögen. Die Nachbarin liess eben ihren Kater kastrieren, weniger weil sie unkontrolliertem Nachwuchs bei halbwilden Hofkatzen vorbeugen will, sondern damit er nicht im schönen neuen Eigenheim markiert. Während wir texten, posten und mailen, kommunizieren Katzen nun einmal mittels Duftmarken, etwas poetisch ausgedrückt. Es duftet nämlich nicht, es stinkt. Aber die Botschaften sind dieselben: ich war hier, ich bin ein potenter Kater auf der Suche nach einer rolligen Katze, und das ist mein Haus, mein Garten, mein Revier.

Der Mensch ist mitteilungsbedürftig, hat schon früher gern am Telefon getratscht, am Gartenzaun Neuigkeiten ausgetauscht und am Stammtisch gewettert und geprahlt. Neu ist nur, dass das Bedürfnis nach sozialem Austausch von der flüchtigen Mündlichkeit zur dauerhaften Schriftlichkeit überging, seitdem wir es nicht mehr im Dorfladen, sondern in den Social Media befriedigen. Natürlich gab es immer schon schriftlich belegte Informationen, nur wurden diese mit Sorgfalt von Chronisten, Schreibern und Redaktoren notiert, editiert und publiziert. Diese Dokumente sind heute unverzichtbare Quellen für das Verständnis unserer Vergangenheit, die Orientierung in der Gegenwart und die Vorbereitung auf die Zukunft. Heute allerdings ist jeder ein kritischer Berichterstatter, der sich zu allem äussert, ob er das nun kann, weil er dazu in der Lage ist, oder einfach, weil es möglich ist. Aber ist wirklich alles Getippte, das täglich in die Datenozeane gespült wird, tatsächlich auch schriftlich gemeint? Längst nämlich ist nicht mehr alles, was mithilfe der Schrift kommuniziert wird, auch das, was man sprachwissenschaftlich als schriftliche Kommunikation einstufen würde. Selbst Telefongespräche sind heute digitalisiert und somit als Daten lesbar, wenn auch in einer andern Sprache und mit anderer Notation. Darüber hinaus ist die Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation nicht nur eine linguistische, sondern auch eine soziale. Beide Formen haben unterschiedliche Funktionen und andere Ansprüche an die Nachhaltigkeit des vermittelten Inhalts.

Wir produzieren jeden Tag Unmengen von Nachrichten, Bildern und Filmen, die wir fleissig vermehren, indem wir sie teilen und liken. All das endet als Informationstrom im Datenozean, wo es wie der pulverisierte Plastikmüll im Meer kaum mehr je entsorgt werden kann. Selbstverständlich kann man Chatprotokolle und Posts löschen, aber es ist mühsam, weil es nicht vorgesehen ist. Selbst auf Snapchat, wo gesendete Bilder nach kurzer Zeit automatisch gelöscht werden, kann man die Daten leicht wieder herstellen. Auf Periscope werden die aufgezeichneten Livestreams zwar nur vierundzwanzig Stunden gespeichert, allerdings werden sie danach kaum auf allen Servern dieser Welt gelöscht. Abgesehen davon wissen wir von Krimis: gelöscht ist noch lange nicht vernichtet. Auf Twitter gilt es gar als verpönt, wenn man alte Tweets löscht. Man soll zu dem stehen, was man zwitschert: Schluss mit Adenauers Unbekümmertheit übers gestrige Geschwätz. Natürlich ist es sinnvoll, nachträglich Zitate verifizieren, Gesagtes überprüfen und Behauptungen widerlegen zu können. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem sozial wichtigen, spontanen und kurzfristigen Austausch, der heute nicht minder unverzichtbar ist als gestern, aber morgen nicht mehr von Belang sein wird, und langfristig bedeutenden und erhaltenswerten Informationen, bei denen man sich zu recht sorgt, ob man sie in zwanzig, hundert oder gar tausend Jahren noch lesen können wird. Der CEO der NZZ-Mediengruppe, Veit Dengler, twitterte die Frage, warum manche ihre alten Tweets löschen. Die Meinungen dazu gehen auseinander. Recht hat er damit, dass man Müll erst gar nicht produzieren sollte.

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