Pferdesterben
Nein, sie sind nicht gestorben, die Pferde sind nur aus meinem Leben gegangen. Dennoch spielt sich Trauriges vor meinen Augen ab. Die Urbanisierungswelle hat den Rand meines Gartens erreicht. Ich bin keineswegs ein Pferdenarr, aber meine vierbeinigen Nachbarn sind mir über die Zeit ans Herz gewachsen. Im Winter mit zotteligem Pelz, widerwillig unter Regengüssen und verspielt an warmen Sommertagen, immer waren sie da, vor meinem Fenster. Ich hörte sie wiehern und traben, in der grossen Wiese grasen oder sah sie scheinbar reglos wie Zirkuspferde aufgereiht am Rande ihres Spielplatzes dösen. Wenn ich aufstand entgegneten die drei meinem ersten Morgenblick ein Grinsen, nicht übertrieben vorwurfsvoll, aber doch bemerkend, dass ihr Tag lange vor dem meinem begonnen hatte. Beim Üben am Flügel zogen sie immer wieder meine Aufmerksamkeit auf sich, sie hielten ihren Kopf in meine Richtung und schienen tatsächlich aufmerksam zuzuhören. Am schönsten jedoch war es, die drei bei ihren wilden Spielen zu beobachten, wenn sie sich wie kleine Jungs gegenseitig das Spielzeug aus dem Maul rissen, sich übermütig aufbäumten oder einander die verfügbaren Gegenstände liebevoll hergaben. Ich kannte ihre Namen, ihre Rasse, wusste um ihr Temprament und man hatte mir ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie frassen manchmal unser Gras im Garten, ich wohnte ihrer Fütterung bei und selbst ihren Mist habe ich schon aufgesammelt und entsorgt.
Nun sie sind fort. Abtransportiert. Kaum waren sie weg, kamen Männer mit Motorsägen, es fiel der blühende Apfelbaum hinterm Stall, dann der davor, ein Busch, und noch ein Baum. Abgesägt, zerteilt, aufgeladen und weggebracht. Dann verschwand ganz still der Stromdraht, fast unmerklich Stück für Stück vom Pferdezaun, erst die horizontalen Latten, dann die vertikalen Pfosten. Wie Packman frass sich etwas durch das Holz, das da schon stand, als ich noch hier zur Schule ging. Heute waren wieder Männer da, das Dach des kleinen Stalls ist abgedeckt, es klaffen Lücken in den Wänden. Die schützende Hütte verschwindet langsam, als ob auch über sie ein Wurm herfiele. Kahl, hart und steinig schreit mir jetzt beim Blick durchs Fenster das Haus entgegen, das zuvor kaum sichtbar war. Die Stille ist beinahe unerträglich, der bittere Nachgeschmack von dröhnenden Sägen und vernichtendem Hämmern. Jetzt ist es tot, das ländliche Idyll vor meinem Fenster. Am Morgen grüsst mich niemand mehr, die Nachbarschaft ist leer, Blühen, Wiehern, Tollen, Farb und Leben, ausradiert, getilgt, entsorgt. Jemand hat das Land verkauft, bald baut der Käufer schon sein Haus darauf, mit viel Platz für Fahrzeugpark und möglichst wenig Grün, weil’s doch so viel Arbeit macht.